Die Wiederaufnahme des Holocaust-Leugners Williamson ist nur die Spitze des antijüdischen Eisberges im rechtskatholischen Universum
Jenseits der Berge ("ultra montes") in Rom ist die feste Burg der Wahrheit für alle Welt zu finden. Als Antwort auf die Verunsicherungen der Moderne wurde dort 1870 eine neue Lehre verkündet: das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes. Mit den Mitteln der fortgeschrittenen Propaganda hatten die Vorreiter und Erfinder dieser Lehre schon Jahrzehnte zuvor eine Massenbewegung im katholischen Volk ins Leben gerufen. In diesem Gebilde des "Ultramontanismus" waren sozialer Sinn für die Anliegen der "Kleinen Leute" und populistischer Judenhass oft Seite an Seite zu finden.
Nur im größeren geschichtlichen Zusammenhang ist die aktuelle Auseinandersetzung um die Rehabilitation des Rechtsaußenkatholizismus durch den deutschen Papst zu verstehen. Hierzulande verstehen gebildete Vertreter des bürgerlichen Katholizismus endlich, was auf dem Spiel steht. Deshalb werden selbst Oberhirten wie Bischof Gebhard Fürst in Rottenburg oder der Hamburger Erzbischof Werner Thissen in ihrem Widerspruch Richtung Rom ungewöhnlich deutlich. Sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich jetzt mit einer regelrechten Zurechweisung des Kirchenoberhauptes zu Wort gemeldet. Kardinal Lehmann verlangt nach FR-Angaben eine "Entschuldigung von hoher Stelle" und sieht in dem Vorgang eine Katastrophe für alle Holocaust-Überlebenden.
In diesem Beitrag sollen die historische Dimension und das ganze Ausmaß des Skandals beispielhaft erhellt werden.
Der "Bekennerbischof" und Judenfeind Konrad Martin von Paderborn)
Die große Mehrheit des deutschen Episkopates, darunter besonders unbeugsam der Rottenburger Bischof Joseph Karl Hefele, stand im Vorfeld des I. Vatikanischen Konzils von 1870 einer Dogmatisierung "päpstlicher Unfehlbarkeit und Universalgewalt" ablehnend oder zumindest skeptisch gegenüber. Zu den wenigen ultramontanen Eiferern gehörte der Paderborner Bischof Konrad Martin (1812-1879), der allerdings selbst in einem frühen Werk die Haltbarkeit der dann neu definierten Lehren über das Papsttum in Frage gestellt hatte. Das einfache Volk in seinem Bistum, zu dem ab 1821 das stramm katholische Sauerland gehörte, wurde für die Sache Roms mobilisiert. Gebildete "Laien" und anders denkende Theologen stellte er – bis hin zur Begräbnisverweigerung – kalt.
Dieser Mann ist besonders geeignet, die Thesen Olaf Blaschkes über den Zusammenhang von ultramontanem Katholizismus und Antijudaismus zu illustrieren. Bischof Konrad Martin war nicht nur Eiferer für ein absolutistisches Papsttum, sondern auch ein glühender Judenhasser. Schon 1848 begann er unter dem Deckmantel der "Talmud-Übersetzung" seinen Feldzug gegen "Hochmut", "Gehässigkeiten", "Falscheide" und "Wucherei" der "Juden" (an sich). Diese hätten sich "von je her schuldig gemacht" im "Verhalten gegenüber allen Nichtjuden". Martins antijüdische Kronzeugen reichten zurück bis ins 13. Jahrhundert. Die in Paderborn "wissenschaftlich" aufgefrischten Mythen über das so genannte "Talmudjudentum" machten selbst vor "Ritualmord"-Märchen keinen Halt. Sie werden viel später im Nazi-Organ "Der Stürmer" fortleben und kursieren noch heute – via Export aus dem Christentum – in Teilen der arabischen Medienwelt.
Konrad Martin gilt wegen der bitteren Verfolgung durch den preußischen Staat als "Bekennerbischof". Er wird – nachzulesen z.B. auf der Website des Eichsfelder CDU-Bundestagsabgeordneten Manfred Grund – bis heute verehrt, wobei Kathpedia Martins Ausführungen zum Judentum geflissentlich übergeht. Mehr noch: es läuft in Rom ein Seligsprechungsverfahren für diesen Judenfeind. Niemand kann mehr ausschließen, dass dieser Prozess unter dem Pontifikat des deutschen Papstes einen – in den Augen des Rechtsaußen-Katholizismus – "positiven Ausgang" nimmt. Wer gegenwärtig seitens der Deutschen Bischofskonferenz Schlimmeres verhüten will, kann mit Prävention hier ansetzen.
Exkurs: Die Wirkungsgeschichte des ultramontanen Judenhasses im Kleinraum)
In Paderborn sorgte der im sauerländischen Winterberg geborene Priester Joseph Rebbert (1837-1897), Gründer der Bonifacius-Druckerei, für eine publizistische Verbreitung der "Judenforschungen" seines Bischofs. Spätestens bei diesem – von der Zentrumspresse gelobten – Papsteiferer und glühenden Judenhasser erweist sich die katholische Abgrenzung vom rassistisch motivierten "Antisemitismus" als reine Farce. Rebbert schreibt: Der einzelne kann wohl seine Confession, nicht aber die Eigenthümlichkeiten seiner Rasse aufgeben; auch der humanistische Reformjude ist und bleibt "Jude".
Olaf Blaschke: Katholizismus und Antisemitismus (1997, S. 79)
Ich bin heimatverbundener Sauerländer und – gewissermaßen auf "unheilbare" Weise – katholisch. Deshalb gefallen mir solche Befunde überhaupt nicht. Ich finde jedoch bei meinen Forschungen zur regionalen Mundartliteratur des katholischen Sauerlandes und zur populären Kultur des Kleinraumes viel Bestätigung für Blaschkes Thesen zum ultramontan-antijüdischen Komplex.
Der sauerländische Dichter Friedrich Wilhelm Grimme (1827-1898) duldet z.B. in seinen plattdeutschen Büchern nur gutmütige Fopperei als Merkmal der katholischen Kleine-Leute-Landschaft. Dann zieht er nach Paderborn und ist sogar Gast an der Tafel von Bischof Konrad Martin. Auf einmal enthält die Neuauflage eines seiner Werke gehässige und aggressive Ausfälle gegen einzelne Menschen in seiner Heimat. Es handelt sich aber nicht um Mitglieder des katholischen Kollektivs. Diese stehen ja unter allgemeinem und klassenlosem Wohlwollen. Die Opfer der Verächtlichmachung sind vielmehr jüdische Kleinhändler des Sauerlandes.
Wenige Jahrzehnte später lässt der sauerländische Schuster und Küster Jost Hennecke (1873-1940) einen der plattdeutschen "Helden" seines Schwankbuches "Heididdeldei" (1908) zwei Juden mittels Holzwaffe grün und blau schlagen. Die von den Nazis übernommene Heimatbewegung druckt 1940 im Jahreskalender einen Nachruf auf den denkbar treuen Katholiken und wählt als Beispiel für dessen Dichtung genau dieses Schwankstück aus.
Die Tendenz des größeren Befundes: aus einem eher "banalen" Antijudaismus als Zug der katholischen Mentalität entwickelt sich zunehmend die Bereitschaft, auch die körperliche Unversehrtheit jüdischer Mitmenschen mit Füßen zu treten. Als die Nazis dann Priester und Ordensleute abholten, stellten sich ihnen "ultramontan" geprägte Sauerländer mutig entgegen. Wurde jedoch ein Jude durchs Dorf getrieben, fehlte der spontane Impuls, dem langjährigen Nachbarn beizustehen.
Noch 1937 druckte das fürs Sauerland zuständige Erzbistum Paderborn in einem massenhaft verbreiteten Kurzkatechismus die Sätze: Welches ist die größte Sünde des jüdischen Volkes? Die größte Sünde des jüdischen Volkes war, daß es den Erlöser und seine Lehre verwarf. Das Christentum ist also niemals die dem jüdischen Volke eigene Religion gewesen.
Der Egomane und Judenbekehrer Papst Pius IX.)
Zurück zur heißen Kampfzeit des Ultramontanismus. Papst Pius IX. (1792-1878) galt nach seiner Wahl zunächst als Liberaler. Verunsichert durch die geistigen und politischen Entwicklungen, steuerte er jedoch einen autoritären Kurs und verfiel den reaktionärsten Wahnideen seiner Zeit (einzelne Parallelen zur Biographie des gegenwärtigen Kirchenoberhauptes sind schwer zu übersehen). Seinen Minderwertigkeitskomplex ließ er durch eine Marien-Erscheinung heilen. Die Durchsetzung der "päpstlichen Unfehlbarkeit" wurde sein höchstes Lebensziel. Historisch-kritisch forschende Theologen schloss er von allen Beratungen des I. Vatikanischen Konzils aus. Abenteuerliche Erfindungen sollten seine neuartigen "Ideen" als immer schon geltend beweisen.
Keine Gelegenheit hat dieser Egomane ausgelassen, von seiner Linie abweichende Bischöfe als "Verräter" oder "Esel" zu beschimpfen. Selbst die sehr zahlreichen Widerrufenden unter den Gegnern der neuen Papstdogmen hat er gedemütigt, im Einzelfall mit Hilfe seines eigenen Fußes. Ein durchdachtes System der Einschüchterung und Denunziation war Garant für einen Konzilsentscheid im Sinne des Papstes. Die vatikanische Geheimpolizei von Pius IX. hatte viele Spitzel.
Allein die Belege für die Kaltherzigkeit dieses Mannes verbieten es, ihn unter Christen als Vorbild hinzustellen. In Persona steht auch er für die Verbindung von Judenfeindlichkeit und Ultramontanismus. Das durchaus kirchenfreundliche Ökumenische Heiligenlexikon vermerkt: 1850 […] ließ Pius das Judengetto in Rom wieder errichten, verweigerte Juden den Zugang zu den meisten Berufen und setzte den Talmud auf die Liste der verbotenen Bücher. 1858 ereignete es sich, dass ein Dienstmädchen heimlich das Kind ihrer jüdischen Arbeitgeber getauft hatte. Sie suchte nun Hilfe […] diese Unterstützung kam von höchster Stelle: Pius ließ den kleinen Edgaro Montana entführen und in ein Seminar stecken. Den verzweifelten Eltern sagte er, sie bräuchten nur katholisch zu werden, um ihr Kind wieder zu sehen. Die weltweiten Proteste beantwortete er: wenn es dazu käme, würde ich es wieder tun …
Noch unter Papst Johannes Paul II. wurde dieser unsägliche Papst im Jahr 2000 selig gesprochen! Rückblickend werden einige Katholiken und Vertreter des Judentums heute wohl wünschen, sie hätten schon zu diesem Zeitpunkt viel energischer auf den Rechtsruck in der katholischen Weltkirche reagiert.
Die Förderung des "Opus Dei" durch Karol Woytila und Joseph Ratzinger)
Unter dem polnischen Papst Karol Woytila und Kardinal Joseph Ratzinger als dem Präfekten der Glaubenskongregation war es auch zu einem unvorstellbaren Aufschwung des rechtskatholischen "Opus Dei" aus Spanien gekommen. Der derzeitige Papst ist seit 1998 Ehrendoktor der Opus-Dei-Universität Pamplona. In Paderborn gehörte Kardinal Johannes Joachim Degenhardt (1926-2002) im Alter zu den Sympathisanten (auf ihn war von oben die Auseinandersetzung mit dem Theologen Eugen Drewermann abgewälzt worden, die seine intellektuellen Fähigkeiten um einiges überstieg). Der Leiter des weltweit reichsten Bistums, der Kölner Kardinal Joachim Meisner, protegiert Opus-Dei-Leute ohne jede Rücksichtnahme auf das Milieu des rheinischen Katholizismus.
Es ist höchste Zeit, auch in der aktuellen Debatte auf das Opus Dei zu sprechen zu kommen. Dessen Wurzeln im spanischen Klerikal-Faschismus sind schwer zu leugnen. Bei Kabinettsumbildungen berücksichtigte Diktator Franco regelmäßig Opus-Dei-Leute. Vor der Shoa war unverhohlener Antijudaismus fester Bestandteil in den katholischen Schulbüchern Franco-Spaniens. Über ein skandalöses Gespräch mit Josemaria Escriva (1902-1975), dem Gründer und "Führer" des "Gotteswerkes", unterrichtete der englische Priester Vladimir Felzmann, der 1981 das Opus Dei verlassen hatte, bereits 1984 den Buchautor Peter Hertel. Dieser referiert folgendermaßen: Danach sei der Gründer durch Hitlers Eingreifen in Spanien zu Gunsten Francos und des Christentums so geblendet worden, dass er die Nazi-Greuel kaum wahrnahm. Er habe "Nazideutschland als einen Kreuzzug gegen den Kommunismus" gesehen. Es habe für ihn nicht "Hitler gegen die Juden, […] die Slawen, sondern Hitler gegen den Kommunismus" geheißen. Der neue Heilige habe ihm gesagt, "wenn die Leute behaupteten, Hitler habe sechs Millionen Juden getötet, dann übertrieben sie. So schlecht sei Hitler nicht gewesen. Er könne nicht mehr als drei oder vier Millionen Juden getötet haben.
P. Hertel: Schleichende Übernahme (2002, S. 34 – inzwischen ist eine erweiterte und aktualisierte Neuauflage erschienen)
Holocaust-Leugnung in unterschiedlichen Graden scheint also eine Spezialität der katholischen Rechtsaußen-Fraktionen zu sein. Selbst wenn man dem abtrünnigen Priester Felzmann nicht glauben will, bleiben die autoritären und konzilsfeindlichen Doktrinen des Opus-Dei-Gründers. Escriva wurde nach seinem Tod in Rekordzeit selig und 2002 sogar heilig gesprochen. Die bürgerlichen Katholiken hierzulande waren – wie schon im Fall von Pius IX. – nicht gerade glücklich. Doch sie erkannten wieder nicht, wohin der Vatikan das Kirchenschiff bereits mit vollen Segeln lenkte: ganz weit nach Rechts.
Kein Ende in Sicht: Pius XII. als nächster Kandidat für den Heiligenschein?
Zu befürchten steht leider, dass auch eine Seligsprechung von Papst Pius XII. (1876-1958) beim Apostolischen Stuhl noch immer erwogen wird. Dieser Papst hatte vor seiner Wahl – zur Zeit der Münchener Räterepublik – gegen eine "sehr harte russisch-jüdisch-revolutionäre Tyrannei" polemisiert und dann 1933 das Konkordat mit den Nazis möglich gemacht (die Gefahr lauerte für ihn eher im linken Zentrumsflügel). Ebenfalls schon 1933 hatte die jüdische Konvertitin Edith Stein ihn (und Pius XI.) über die Judenverfolgung informiert (sie wurde 1942 von den Nazis ermordet und 1998 heilig gesprochen). Später als Oberhaupt der Kirche während des Hitler-Faschismus ließ Pius XII. kein einziges unverschlüsseltes Klartextwort zum Massenmord an den europäischen Juden verlauten. Ein unter seinem (zuletzt sehr entschiedenen) Vorgänger Pius XI. entworfenes Dokument, welches die Sünde des Antisemitismus beim Namen nennen sollte, ließ er bei Amtsantritt 1939 einfach ins Archiv stellen. Hitler blieb bis zu seinem Selbstmord Katholik. Hätte der Vatikan ihn exkommuniziert, wäre es mit dem faulen "Frieden" endgültig vorbei gewesen.
Zur Verteidigung von Pius XII. wird gebetsmühlenartig angeführt, er habe persönlich doch viele Juden gerettet und nur Schlimmeres verhindern wollen. Die Nazis hätten ja in Holland auf ein mutiges Wort der dortigen Bischöfe hin noch blutiger die Juden verfolgt. Schließlich habe der "Stellvertreter" Pius XII. mit Pinchas Lapide auch einen prominenten jüdischen Fürsprecher gefunden.
Indessen verdichten sich in der Geschichtsforschung die Belege dafür, dass dieser Papst unter dem zu verhütenden "Schlimmeren" wohl keine "noch schlimmere" Judenverfolgung verstanden hat (die es ja auch gar nicht mehr hätte geben können). Vielmehr trieb ihn die brennende Sorge um eine weitere Beschneidung kirchlicher Rechte, um eine Gefährdung katholischer Besitzstände und um eine offene Kirchenverfolgung in Deutschland (oder sogar in Rom). Hier aber haben wir es genau mit jenem ultramontan-katholischen Kollektiv zu tun, das den Selbsterhalt über den "Dienst an der ganzen menschlichen Familie" stellte und durch seine antijüdische Prägung ohnehin korrumpiert war.
In der Folge dieser Grundmentalität kam es zum schrecklichsten Versagen in der Geschichte des ganzen Christentums. Dessen Wahrheitsanspruch hätte man 1945, von denkbar wenigen Ausnahmen abgesehen, in Deutschland eigentlich als widerlegt betrachten müssen. Sechs Millionen Juden waren "industriell" ermordet worden, und die amtliche Kirche hatte – mehr oder weniger – stillschweigend zugesehen.
Die verdrängte Geschichte kehrt heute zurück. Der Katholizismus sollte fortan keine Ausflüchte und Selbstrechtfertigungsversuche mehr dulden, wie sie bei neuen Erkenntnissen der Historiker regelmäßig zum Besten gegeben werden. Proklamiert man nicht, vor dem "Angesicht Gottes" zu stehen? Welchen Sinn soll dann aber ekklesiale Geschichtskosmetik für die Frommen haben? Gerade die deutsche Kirche müsste zeitig klarstellen: Pius XII. mag im Himmel selig sein, aber auf Erden wandelte dieser scheinheilige Kirchenpolitiker gewiss nicht als ein Mustervorbild für christlichen Mut und Nächstenliebe.
Die platonische Dogmatik des deutschen Papstes)
Schon als oberster Glaubenshüter hat Kardinal Ratzinger mit Vehemenz gegen Schwule und Lesben gehetzt und angesichts "gleichgeschlechtlicher Partnerschaften" gar einen Untergang des Abendlandes beschworen. Als Papst ist er dieser Linie treu geblieben. Diesbezügliches wurde in der Medienberichterstattung (neben der obligaten Papst-Euphorie) häufig nur als rückständig belächelt, während es sich doch im Zusammenhang der europäischen Menschenrechtskonvention und einer langen Verfolgungsgeschichte in Wirklichkeit um die Verächtlichmachung einer Minderheit handelt.
Zu begrüßen ist, dass die Medien im Fall der rechtskatholischen Holocaust-Leugner jetzt weniger nachsichtig sind. Allerdings müssten nunmehr von ihnen kritische Theologen zu Rate gezogen werden, um zu erhellen, vor welchem theologischen Hintergrund traditionell antijüdische Kreise wieder Einzug in die Weltkirche halten.
Ratzingers Theologie, von manchen so genannten Intellektuellen über den Klee gelobt, ist ausgesprochen platonisch und stellt die "reine Glaubenslehre" über die christliche Praxis. Wegen seiner "idealen" Sicht der Dinge war es ihm gar nicht recht, wenn sein Vorgänger allzu offen und reumütig über dunkle Seiten der Kirchengeschichte sprach. Nimmt man ein Fernsehinterview aus seiner Zeit als Glaubenspräfekt beim Wort, dann rechnet er sogar mit der Möglichkeit, dass ein folternder Inquisitor trotz seiner "falschen" Handlungen im Besitz des wahren Glaubens oder einer "echten Frömmigkeit" gewesen sein könne (dagegen hatte Jesus gelehrt: "An ihren Früchten werdet Ihr sie erkennen!").
Die eigentlich erst unter staatskirchlichen Bedingungen ausformulierte "griechische" Dogmatik der alten Kirche hat in Ratzingers Augen eine "heilsgeschichtliche" Würde und Wucht sondergleichen. Dieses dogmatische Lehrgebäude steht jedoch dem Hellenismus und der antiken philosophischen Begrifflichkeit oft viel näher als der Bibel. Ratzinger wehrt sich vehement dagegen, es als etwas Zeitbedingtes und sehr Interpretationsbedürftiges zu betrachten.
Bisweilen erscheint in seinen Werken die jüdische Glaubensüberlieferung, in der Jesus als Jude ja fest verwurzelt war, lediglich wie eine Stichwortgeberin für eine ganz andersartige, höhere Ebene "ewiger Wahrheit". Anders als die Ansätze vieler katholischer Theologen bietet die extrem platonische Dogmatik Ratzingers schon in sich keine guten Voraussetzungen für einen wirklich geschwisterlichen und gleichberechtigten Dialog mit dem Judentum. Doch was soll man erwarten, wenn er schon der Gemeinschaft der evangelischen Christen ein ernstzunehmendes "Kirchesein" abspricht?
Platoniker sind übrigens selten gute Historiker. Der Oberrabbiner von Rom, Riccardo Di Segni, hat seinerzeit die vom deutschen Papst am 28. Mai 2006 in Auschwitz-Birkenau vorgetragene "Verführungsthese" zur Deutung der deutschen Täterschaft mit großem Recht als "problematisch" bezeichnet. Haben katholische Kleinbauern, linke Zentrumsleute, Mitglieder des Friedensbundes deutscher Katholiken und nicht wenige Priester unter den Nazis gelitten oder gar das Leben lassen müssen, damit die Nachwelt das Treiben der Mehrheit so bequem erklären kann?
Der "Schwarze Karfreitag" für das II. Vatikanische Konzil: Unter Ratzinger darf wieder für die Erleuchtung der Juden gebetet werden)
Als ich Anfang September 2007 in Telepolis auf die fortdauernde Möglichkeit einer Wiedereinführung der antijüdischen Karfreitagsfürbitte "pro perfidis Judaeis" hinwies, wollte ich selbst das Ungeheuerliche eigentlich gar nicht glauben. Wenn auch in einer abgemilderten Form, bei der den Juden keine direkte "Perfidie" mehr bescheinigt wird, kam es dann am Faschingsdienstag 2008 tatsächlich zum schwarzen Karfreitag für eine der zentralen Errungenschaften des II. Vatikanischen Konzils.
Nunmehr dürfen katholische Traditionalisten, die ja nicht nur in der bis vor kurzem exkommunizierten Pius-Bruderschaft organisiert sind, wieder für die "Erleuchtung der Juden" beten (die "Glaubensfinsternis" aus der alten Formel hört man unweigerlich mit). Dass dies ausgerechnet ein deutscher Papst ermöglicht und persönlich formuliert hat, fand in den Medien keinen Beifall. Doch die wirklich laute Empörung blieb aus.
Angesichts der gegenwärtigen Medienaufmerksamkeit bezüglich der bedingungslosen Wiederaufnahme erklärter Konzilsgegner in die röm.-kath. Kirche muss man allerdings sagen: die Rehabilitation der Karfreitagsfürbitte ist – was den katholisch-jüdischen Dialog betrifft – die eigentliche "Ursünde" und in theologischer Sicht der größere Skandal. Sie hat das Herzensanliegen von Papst Johannes XXIII. – einen Neuanfang der Geschwisterlichkeit zwischen Christen und Juden – rücksichtslos missachtet. Sie hat die Konzilserklärung "Nostra aetate" faktisch für Schnee von gestern erklärt. Sie wurde, wie wir inzwischen sehen, von den Nachfolgern der ultramontanistischen Judenhasser auch sogleich als Einladung verstanden, sich immer dreister zu Wort zu melden und schließlich die Opfer der Shoa zu verhöhnen.
Nur vergleichsweise wenige Vertreter des Judentums wie der Rabbiner Walter Homolka, der Historiker Michael Wolffsohn oder der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik haben 2008 die ganze Tragweite dieses Skandals überschaut und sich dann – auch durch noch so freundliche Erklärungen und Einladungen – nicht besänftigen lassen. Nunmehr erweist sich ihre Kompromisslosigkeit leider noch deutlicher als zwingend notwendig.
An dieser Stelle seien aus linkskatholischer Perspektive aber zwei offene Anfragen an den Zentralrat der Juden erlaubt: müsste nicht auch durch dieses "Laiengremium", das ja keine Rabbinerkonferenz ist, die religiöse Grundlage des jüdischen Selbstverständnisses öffentlich stärker in den Mittelpunkt gerückt werden? Die unter dem deutschen Papst eingeläutete Eiszeit ist ja nicht zuletzt auch ein theologischer Skandal. Wird außerdem wahrgenommen, dass sich gerade auch unter katholischen Kritikern der in Israel vorherrschenden Politik viele Christinnen und Christen befinden, die sich dem Judentum theologisch und mit dem Herzen eng verbunden fühlen?
Bischof Lefebvre und der klerikal-faschistoide Komplex)
Bei allen Konzessionen, die der polnische Papst an rechte bzw. traditionalistische Katholiken gemacht hat, kann man dennoch davon ausgehen: Woytila hätte die Karfreitagsbitte nicht wieder zugelassen, und er hätte auch die Lefebvrianer nicht ohne Vorleistungen oder Bedingungen von der (unter seinem Pontifikat) 1988 verhängten Exkommunikation befreit.
Sein Nachfolger, der deutsche Papst, hat, um es fair wiederzugeben, 2009 keinerlei Holocaust-Leugnung gutgeheißen. Ist das beruhigend? Bischof Williamson und andere derzeit zitierte Mitglieder der Pius-Bruderschaft sind als direkte Holocaustleugner vielleicht sogar wirklich eine Minderheit in ihrer Sekte. Es bleiben aber die Wurzeln im klerikal-faschistoiden Komplex, zu dem mit großer Regelmäßigkeit die ultramontan gefärbte Judenfeindlichkeit gehört. Der kath. Theologieprofessor Hermann Häring erklärt dazu im tz-Interview: Es ist ein Skandal, dass übersehen wurde, dass diese Piusbruderschaft – unabhängig von den Äußerungen des Herrn Williamson – notorisch antisemitisch ist. Ich habe die hetzerischen Äußerungen Lefebvres über die Juden und die Kommunisten noch im Ohr! Man wusste, dass er ein guter Freund Francos und Pinochets war. Wenn der Papst das alles wirklich nicht gewusst hat, wäre ihm vorzuwerfen, dass er sich dafür nicht interessiert hat.
Auch der soeben aus der Kirche ausgetretene niederländische Theologe Jean-Pierre Wils meint, die Pius-Bruderschaft sei eine "extrem reaktionäre und zutiefst antisemitische Gruppe, die mit Diktatoren und rechtsgerichteten Regimen sympathisiere". Selbst die konservative FAZ konstatiert Nähe zur "Neuen Rechten".
Mit diesen Traditionalisten nun, so Hans Küng, wird größte Nachsicht geübt, während etwa Befreiungstheologen vom selben Papst noch immer mit mittelalterlichen Redeverboten bedacht werden. Nicht einmal die Anerkennung des von ihnen offen bekämpften II. Vatikanischen Konzils wird den Traditionalisten abverlangt.
An diesem ungeheuerlichen Verfahren könnte man wiederum leicht ablesen, wohin die Reise geht. Denn es gibt durchaus Schnittmengen mit der Geisteswelt von Papst Benedikt, der ebenfalls ein erklärter Antimoderner ist und an der Französischen Revolution kaum ein gutes Haar lässt.
Da über solche Zusammenhänge aktuell immer mehr Informationen angeboten werden, lassen sich die Medien nicht beschwichtigen. Dass auch Mitglieder der deutschen Bischofskonferenz bei ihrer Kritik bleiben, ehrt diese.
"Wir sind Papst" war gestern)
Die Zeit, in der das Mainstreaming der Medien die Bild-Botschaft "Wir sind Papst" verbreitete und sich vom Tand kostbarer Gewänder blenden ließ, scheint vorbei zu sein. Die Tragik der letzten Papstwahl, auf die zeitnah nur böse Reform- und Linkskatholiken hingewiesen haben, wird nun endlich von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. Die Permanenz der Skandale bringt das Fass einfach zum Überlaufen. Wenn der Papst nach seinem Ausschwitzbesuch 2006 wirklich erschüttert war, kann er dies jetzt mit einem entschiedenen und großherzigen Schritt unter Beweis stellen. Kühle Distanzierungen mehren nur den Schmerz.
Auf unbedingte Gefolgschaft aller Bistümer kann er allerdings nicht mehr zählen. Weithin unbekannt ist, wie viele ortsnahe Gemeinden in Deutschland aufgrund des Priestermangels täglich sterben und welche schlaflosen Nächte dies den Personalverantwortlichen bereitet. Der Papst verweigert jegliche Hilfe, obwohl er ohne Not verheiratete Theologen zu Weihe und Gemeindeleitung zulassen könnte.
Die durchaus auch positiven Aspekte des überkommenen Milieukatholizismus hat vor wenigen Tagen Kardinal Karl Lehmann bei der Jubiläumsfeier im Mainzer Dom hervorgehoben: die Anwaltschaft für die kleinen Leute (nicht nur die katholischen). Doch schon wieder ist ein Jahr verstrichen, in dem der – um die traditionalistischen Ränder bemühte – Papst keinen nennenswerten Beitrag zur Weiterentwicklung der katholischen Soziallehre geleistet hat. Es gehört ja gerade auch die Soziallehre zu den Dingen, die den Traditionalisten förmlich als "Abfall"-Produkte gelten.
Narzisstische Persönlichkeiten, die ihre selbstbezogenen Vorlieben pflegen, haben seit Durchbruch der neoliberalen Wirtschaftsreligion nicht nur im Katholizismus leitende Kirchenämter an sich gezogen. Eine kritische Öffentlichkeit fragt, ob speziell die katholische Kirche sich vor allem als ein großes, selbstverliebtes Kollektiv darstellen möchte, das sich in einer schönfärberischen Geschichtsschreibung, verflossenen Glanzzeiten und einem unbeirrbarem Wahrheitsbesitz sonnt?
Die dem II. Vatikanischen Konzil entsprechende Frage lautet aber, "welche Fehler und Sünden haben wir in der Vergangenheit begangen? Was haben wir angesichts des zivilisatorischen Ernstfalls, angesichts der Bedrohung der Lebensgrundlagen und eines neuen kriegerischen Zeitalters, heute als Partnerschaft und als Beitrag zum Wohl aller Menschen anzubieten?"
Peter Bürger
Bildermaschine für den Krieg
(der Autor ist röm.-kath. Theologe und Krankenpfleger und arbeitet als freier Publizist in Düsseldorf)